Ein YouTube-Video über die Begegnung eines Kreuzfahrtschiffes mit einem Flüchtlingsboot hat der Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Filmproduzentin Merle Kröger den Anlass zu ihrem Roman Havarie (2015) gegeben. Die Lebensabschnitte von elf Figuren (Migranten, Urlaubern, Kreuzfahrtschiffs-, Seenotrettungs- und Frachtarbeitern) kreuzen sich in einem Zeitraum von zwei Nächten und einem Tag im Mittelmeer; das Zusammenprallen unterschiedlicher Welten, das aus diesen Begegnungen entsteht, wird aus den sich abwechselnden Perspektiven aller Hauptfiguren nüchtern und schonungslos erzählt. Havarie ist aber nicht nur ein Roman der Jetztzeit, der die Migrantenwelle aus Afrika darstellt, sondern wegen seiner Anspielungen auf Konflikte u. a. in der Ukraine, Algerien, Syrien, Nordirland und in den Philippinen, die Schwarz-Weiß-Bilder am Ende des Bandes visuell darstellen, auch einer der jüngsten Weltgeschichte. Da Geschichte «nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum» spielt (Schlögel), gewinnt vor allem das Meer eine tragende Funktion, sowohl als permeabler Grenz- und Übergangsraum als auch als Landschaft mit unsichtbaren und trotzdem deutlichen Abgrenzungen, die zeigt, dass das besitzanzeigende Adjektiv in der Bezeichnung mare nostrum die Konnotation der Inklusion und der Gemeinsamkeit zugunsten der Exklusion und der Alterität verloren hat. Unter den Schiffen und Booten, die das Mittelmeer durchkreuzen, spielt das Kreuzfahrtschiff eine besonders wichtige Rolle: Es stellt einen mehrsprachigen Mikrokosmos dar, der – wie sein Name The Spirit of Europe verrät – das Wesen eines Erdteiles synthetisiert und die soziale Ungleichheit, die Ausbeutung, die Gleichgültigkeit, die Geldgier, die Kontaktarmut, die Oberflächigkeit und den Egoismus bloßstellt, die ihn kennzeichnen: Havariert ist also nicht nur das Schlauchboot der Flüchtlinge, sondern auch Europa und der Mensch. Wichtig ist schließlich die literarische Gattung, der Havarie angehört: Der Text ist ein Kriminalroman, der monatelang auf Platz 1 der Krimi-Bestenliste der Zeit stand. Vermisst wird Jo, ein philippinischer Sänger des Kreuzfahrtschiffes, aber der traditionelle Ablauf eines Krimis fehlt fast genauso wie die Ermittlung und die Ermittlerfigur. Das Verbrechen steht aber fest: mehrfacher Mord. An Jo (vielleicht), an den Flüchtlingen, die das Mittelmeer zum Massengrab werden lassen, und an der Menschlichkeit. Die zentrale Frage der Kriminalliteratur «whodunit?» (Alewyn) bleibt und ihre Beantwortung wird dem Leser und seinem Gewissen überlassen. Ist aber der Leser als Europäer und Mensch nicht selber ein Mörder?

Europa mit schwerer Havarie bei Merle Kröger

GIOVANNINI E
2019-01-01

Abstract

Ein YouTube-Video über die Begegnung eines Kreuzfahrtschiffes mit einem Flüchtlingsboot hat der Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Filmproduzentin Merle Kröger den Anlass zu ihrem Roman Havarie (2015) gegeben. Die Lebensabschnitte von elf Figuren (Migranten, Urlaubern, Kreuzfahrtschiffs-, Seenotrettungs- und Frachtarbeitern) kreuzen sich in einem Zeitraum von zwei Nächten und einem Tag im Mittelmeer; das Zusammenprallen unterschiedlicher Welten, das aus diesen Begegnungen entsteht, wird aus den sich abwechselnden Perspektiven aller Hauptfiguren nüchtern und schonungslos erzählt. Havarie ist aber nicht nur ein Roman der Jetztzeit, der die Migrantenwelle aus Afrika darstellt, sondern wegen seiner Anspielungen auf Konflikte u. a. in der Ukraine, Algerien, Syrien, Nordirland und in den Philippinen, die Schwarz-Weiß-Bilder am Ende des Bandes visuell darstellen, auch einer der jüngsten Weltgeschichte. Da Geschichte «nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum» spielt (Schlögel), gewinnt vor allem das Meer eine tragende Funktion, sowohl als permeabler Grenz- und Übergangsraum als auch als Landschaft mit unsichtbaren und trotzdem deutlichen Abgrenzungen, die zeigt, dass das besitzanzeigende Adjektiv in der Bezeichnung mare nostrum die Konnotation der Inklusion und der Gemeinsamkeit zugunsten der Exklusion und der Alterität verloren hat. Unter den Schiffen und Booten, die das Mittelmeer durchkreuzen, spielt das Kreuzfahrtschiff eine besonders wichtige Rolle: Es stellt einen mehrsprachigen Mikrokosmos dar, der – wie sein Name The Spirit of Europe verrät – das Wesen eines Erdteiles synthetisiert und die soziale Ungleichheit, die Ausbeutung, die Gleichgültigkeit, die Geldgier, die Kontaktarmut, die Oberflächigkeit und den Egoismus bloßstellt, die ihn kennzeichnen: Havariert ist also nicht nur das Schlauchboot der Flüchtlinge, sondern auch Europa und der Mensch. Wichtig ist schließlich die literarische Gattung, der Havarie angehört: Der Text ist ein Kriminalroman, der monatelang auf Platz 1 der Krimi-Bestenliste der Zeit stand. Vermisst wird Jo, ein philippinischer Sänger des Kreuzfahrtschiffes, aber der traditionelle Ablauf eines Krimis fehlt fast genauso wie die Ermittlung und die Ermittlerfigur. Das Verbrechen steht aber fest: mehrfacher Mord. An Jo (vielleicht), an den Flüchtlingen, die das Mittelmeer zum Massengrab werden lassen, und an der Menschlichkeit. Die zentrale Frage der Kriminalliteratur «whodunit?» (Alewyn) bleibt und ihre Beantwortung wird dem Leser und seinem Gewissen überlassen. Ist aber der Leser als Europäer und Mensch nicht selber ein Mörder?
2019
978-3-8376-4609-2
File in questo prodotto:
Non ci sono file associati a questo prodotto.

I documenti in IRIS sono protetti da copyright e tutti i diritti sono riservati, salvo diversa indicazione.

Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11579/106145
Citazioni
  • ???jsp.display-item.citation.pmc??? ND
  • Scopus ND
  • ???jsp.display-item.citation.isi??? ND
social impact