Laut H. Lefebvre spiegelt die Produktion des Raumes bestehende Machtverhältnisse wider und verfestigt sie. Im Falle von H. Bölls Erzählung Der Bahnhof von Zimpren (1958) zeigt sich der Bahnhof als Ergebnis wirtschaftlicher Prozesse, die den Raum und die Gesellschaft markieren, und die Böll mit kritischer Ironie darstellt. Der Bahnhof der Kleinstadt ist ein polyfunktionaler Transitraum, ein Knotenpunkt im Verkehrs- und Wirtschaftsnetz, der den Übergang zum aggressiven Kapitalismus und die darauffolgenden sozialen Transformationen verräumlicht. Bestehende Identitätskonzepte werden durch erfolgreiche Ölbohrungen und rasches Bevölkerungswachstum in Zimpren in Frage gestellt, so dass sich der neue Bahnhof sowohl als Kathedrale des Fortschritts als auch als ‚Nicht-Ort‘ entpuppt, d. h. als „Maß unserer Zeit“ und als Negation von Identität, Relation und Geschichte (Augé). Die transitorischen Begegnungen von anonymen, austauschbaren und entindividualisierten Arbeitern sind das Sinnbild einer Gesellschaft, die nicht auf Menschen, sondern auf Geld fokussiert ist. Als nichtintegrierbare „Orte der Erinnerung“ (Augé) gelten zwei Außenseiter − die Witwe Klipp und ihr Knecht Goswin −, die sich als Vertreter eines auf Tradition, Identität und räumlicher Kontinuität gegründeten ländlichen Gegenmodells erweisen. Als der Erdölstrahl dünner wird, verödet Zimpren. Der Bahnhof wird leer und zum Strafbahnhof für aufsässige Beamte herabgewürdigt. Er rückt also vom gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zentrum in die Peripherie: Ein Transitraum ohne Transit und Begegnungsmöglichkeiten, der Merkmale einer ‚Abweichungsheterotopie‘ (Foucault) aufweist und nicht mehr als ‚Raum‘ im Sinne De Certeaus betrachtet werden kann. Aktiv wird schließlich Frau Klipp, die dank niedriger Grundstückpreisen fast ganz Zimpren aufkauft und die Landwirtschaft wieder in Schwung bringt. Ihre Ackergeräte bewahrt sie im Bahnhof auf: Die entwürdigende Lagerfunktion des Bahnhofs gilt nun als verräumlichte Revanche eines solideren und traditionelleren (obwohl nicht ganz schuldlosen) Lebensmodells am Wirtschaftswunder, das in dieser Erzählung zwei Gesichter zeigt und metaphorisch sowohl als dynamischer wie auch als verfallener und statischer Transitraum geschildert wird.

Begegnungen und Bewegungen im ‚Transitraum‘ Wirtschaftswunder: Heinrich Bölls Der Bahnhof von Zimpren

GIOVANNINI E
2017-01-01

Abstract

Laut H. Lefebvre spiegelt die Produktion des Raumes bestehende Machtverhältnisse wider und verfestigt sie. Im Falle von H. Bölls Erzählung Der Bahnhof von Zimpren (1958) zeigt sich der Bahnhof als Ergebnis wirtschaftlicher Prozesse, die den Raum und die Gesellschaft markieren, und die Böll mit kritischer Ironie darstellt. Der Bahnhof der Kleinstadt ist ein polyfunktionaler Transitraum, ein Knotenpunkt im Verkehrs- und Wirtschaftsnetz, der den Übergang zum aggressiven Kapitalismus und die darauffolgenden sozialen Transformationen verräumlicht. Bestehende Identitätskonzepte werden durch erfolgreiche Ölbohrungen und rasches Bevölkerungswachstum in Zimpren in Frage gestellt, so dass sich der neue Bahnhof sowohl als Kathedrale des Fortschritts als auch als ‚Nicht-Ort‘ entpuppt, d. h. als „Maß unserer Zeit“ und als Negation von Identität, Relation und Geschichte (Augé). Die transitorischen Begegnungen von anonymen, austauschbaren und entindividualisierten Arbeitern sind das Sinnbild einer Gesellschaft, die nicht auf Menschen, sondern auf Geld fokussiert ist. Als nichtintegrierbare „Orte der Erinnerung“ (Augé) gelten zwei Außenseiter − die Witwe Klipp und ihr Knecht Goswin −, die sich als Vertreter eines auf Tradition, Identität und räumlicher Kontinuität gegründeten ländlichen Gegenmodells erweisen. Als der Erdölstrahl dünner wird, verödet Zimpren. Der Bahnhof wird leer und zum Strafbahnhof für aufsässige Beamte herabgewürdigt. Er rückt also vom gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zentrum in die Peripherie: Ein Transitraum ohne Transit und Begegnungsmöglichkeiten, der Merkmale einer ‚Abweichungsheterotopie‘ (Foucault) aufweist und nicht mehr als ‚Raum‘ im Sinne De Certeaus betrachtet werden kann. Aktiv wird schließlich Frau Klipp, die dank niedriger Grundstückpreisen fast ganz Zimpren aufkauft und die Landwirtschaft wieder in Schwung bringt. Ihre Ackergeräte bewahrt sie im Bahnhof auf: Die entwürdigende Lagerfunktion des Bahnhofs gilt nun als verräumlichte Revanche eines solideren und traditionelleren (obwohl nicht ganz schuldlosen) Lebensmodells am Wirtschaftswunder, das in dieser Erzählung zwei Gesichter zeigt und metaphorisch sowohl als dynamischer wie auch als verfallener und statischer Transitraum geschildert wird.
2017
978-3-631-71690-8
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