Der mit dem Hilde-Domin- (2013), dem Nelly-Sachs- (2017) und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis (2017) ausgezeichnete, deutsch-irakische Schriftsteller Abbas Khider wurde mit neunzehn Jahren in Bagdad infolge seines politischen Aktivismus verhaftet; nach der Entlassung floh er 1996 aus seiner Heimat, hielt sich zunächst in verschiedenen Ländern auf, bevor er 2000 nach Deutschland siedelte. Khiders zum Teil autobiografischer, neu erschienener Roman Der Erinnerungsfälscher (2022) thematisiert die Erinnerungen des Flüchtlings und Schriftstellers Said Al-Wahid, der wegen der schweren Krankheit seiner Mutter plötzlich aus Berlin vorübergehend in den Irak zurückkehren muss. Seine Vergangenheit und Erinnerungen über die Migration und die angestrebte Integration in Europa werden im Roman verräumlicht, so dass Vorgänge von In- und Exklusion an Konkretheit und Kraft gewinnen. Der Zweifel an der Erinnerung und der Schmerz werden durch Raumbilder (z. B. durch ein Labyrinth, Löcher und Minenfelder) anschaulich dargestellt, aber im Unterschied zu Schlögels Behauptung «Orte sind verlässliche Zeugen, Erinnerungen sind flexibel» zeigt sich im Roman die Unzuverlässigkeit der Erinnerung auch an deren Verräumlichungen. Dies wirft Fragen der Identität auf, die sowohl die fremd gewordene Heimat als auch das noch nicht zu Eigen gemachte Deutschland einbeziehen. Grenzen bestehen auf mehreren Ebenen und verfestigen sich in Farbunterschieden, die in einer Schwarz-Weiß Dichotomie wurzeln. Grenzen werden aber zu keinem «Ort der Begegnung» (Karahasan), sondern sind Ort der Trennung, die sich in der ‒ bürokratischen ‒ Mauer konkretisiert, gegen die die Hauptfigur mehrmals prallt. Saids deutscher Pass erscheint ihm endlich als «Rettungsanker» (Khider), der den Flüchtling aber von seiner Heimat noch mehr entfremdet und seinen gespaltenen Identitätszustand weiter verschärft, weil die Frage nach der Zugehörigkeit für ihn schwer zu beantworten ist. Die einzige effektive Verankerung im Roman bietet Said die Wohnung in Berlin, die er mit seiner deutschen Frau und Kind bezieht und ihm ein «Versteck von der ganzen Welt […], [eine] kleine Oase und Schreibhütte» (Khider) bedeutet: Ein multikultureller und sicherer Raum der Abschottung, in dem Grenzen ‒ zum Teil ‒ überschritten werden können, was ihm Platz für eine ‒ wenn auch nur mühsame und prekäre ‒ Lösung seiner Abgrenzungskonflikte verschafft.
Verräumlichte Inklusions- und Exklusionsvorgänge in Abbas Khiders Roman „Der Erinnerungsfälscher“
Giovannini, E
2025-01-01
Abstract
Der mit dem Hilde-Domin- (2013), dem Nelly-Sachs- (2017) und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis (2017) ausgezeichnete, deutsch-irakische Schriftsteller Abbas Khider wurde mit neunzehn Jahren in Bagdad infolge seines politischen Aktivismus verhaftet; nach der Entlassung floh er 1996 aus seiner Heimat, hielt sich zunächst in verschiedenen Ländern auf, bevor er 2000 nach Deutschland siedelte. Khiders zum Teil autobiografischer, neu erschienener Roman Der Erinnerungsfälscher (2022) thematisiert die Erinnerungen des Flüchtlings und Schriftstellers Said Al-Wahid, der wegen der schweren Krankheit seiner Mutter plötzlich aus Berlin vorübergehend in den Irak zurückkehren muss. Seine Vergangenheit und Erinnerungen über die Migration und die angestrebte Integration in Europa werden im Roman verräumlicht, so dass Vorgänge von In- und Exklusion an Konkretheit und Kraft gewinnen. Der Zweifel an der Erinnerung und der Schmerz werden durch Raumbilder (z. B. durch ein Labyrinth, Löcher und Minenfelder) anschaulich dargestellt, aber im Unterschied zu Schlögels Behauptung «Orte sind verlässliche Zeugen, Erinnerungen sind flexibel» zeigt sich im Roman die Unzuverlässigkeit der Erinnerung auch an deren Verräumlichungen. Dies wirft Fragen der Identität auf, die sowohl die fremd gewordene Heimat als auch das noch nicht zu Eigen gemachte Deutschland einbeziehen. Grenzen bestehen auf mehreren Ebenen und verfestigen sich in Farbunterschieden, die in einer Schwarz-Weiß Dichotomie wurzeln. Grenzen werden aber zu keinem «Ort der Begegnung» (Karahasan), sondern sind Ort der Trennung, die sich in der ‒ bürokratischen ‒ Mauer konkretisiert, gegen die die Hauptfigur mehrmals prallt. Saids deutscher Pass erscheint ihm endlich als «Rettungsanker» (Khider), der den Flüchtling aber von seiner Heimat noch mehr entfremdet und seinen gespaltenen Identitätszustand weiter verschärft, weil die Frage nach der Zugehörigkeit für ihn schwer zu beantworten ist. Die einzige effektive Verankerung im Roman bietet Said die Wohnung in Berlin, die er mit seiner deutschen Frau und Kind bezieht und ihm ein «Versteck von der ganzen Welt […], [eine] kleine Oase und Schreibhütte» (Khider) bedeutet: Ein multikultureller und sicherer Raum der Abschottung, in dem Grenzen ‒ zum Teil ‒ überschritten werden können, was ihm Platz für eine ‒ wenn auch nur mühsame und prekäre ‒ Lösung seiner Abgrenzungskonflikte verschafft.| File | Dimensione | Formato | |
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