»Die Graphic Novel […] ist wahrscheinlich die einzige Kunstform, die als Kind unserer Zeit betrachtet werden kann«, behauptet der italienische Essayist und Journalist Goffredo Fofi, der die Aktualität, die Vielfalt und die expressive Freiheit der sogenannten ‚neunten Kunst‘ (A. Tosti) betont. In dieser Hinsicht erweist sich Sandmann (2019) von M. Mikolajczak und J. Piotrowski als besonders geeignet, das innovative und intermediale Potenzial des Literatur-Comics zu demonstrieren. Diese Graphic Novel zeichnet sich durch einen zugleich eng gefassten und originellen Umgang mit dem Ausgangstext aus, wie die Rückseite des Buchs ankündigt, wo die Adaption als »fiktive Fortsetzung, […] Gruselgeschichte und Psychothriller« bezeichnet wird. Inhaltliche und sprachliche Fragmente von E. T. A. Hoffmanns Text werden mit Erfindungen auf bildlicher und textueller Ebene kreativ ‚montiert‘, ebenso wie auf der Ebene der Figuren, deren Charakterisierung und Funktionalisierung. Die Perspektivierung und die Erzählstrategien wurzeln in der Erzählung, weichen aber auch deutlich von ihr ab, um Themenbereiche wie z. B. Psychopathie und Erotik zu stärker hervorzuheben, die das Werk für zeitgenössische und nicht unbedingt spezifisch vorgebildete Rezipienten attraktiver werden lassen. Höchst interessant sind außerdem sowohl die bildlichen Bezugnahmen auf Filme des Expressionismus wie Nosferatu und Das Cabinet des Dr. Caligari ‒ die Sandmann mit früheren Literatur-Comics wie Dino Battaglias Olimpia (1970) verbinden ‒, als auch Anklänge an allgemein bekannte Gruselfiguren wie das Monster in Alien oder Gollum in Der Herr der Ringe. Bildzitate in Literatur-Comics bilden außerdem »ein Scharnier zwischen der Comic-Geschichte und der Kunst-Geschichte« (M. Schmitz-Emans), wie auch Sandmann beweist, indem Stilisierungen von Gemälden u. a. von Botticelli, Schiele und Gauguin das Bildgedächtnis des Lesers herausfordern. Das Auge herrscht auf allen Ebenen vor. Die originelle und fesselnde Montage von Bild- und Textzitaten in dieser Graphic Novel wirkt bisweilen desorientierend, doch die Kenntnis des ‚Hypotextes‘ (G. Genette) dient als hilfreicher Kompass für diejenigen Rezipienten, die Nathanael und Coppelius in die Tiefe des Textes begleiten wollen. »Adaptation is a form of repetition without replication« (L. Hutcheon): Sandmann von M. Mikolajczak und J. Piotrowski ist ein überzeugender Beweis dafür.
Eine intermediale Literaturadaption: »Sandmann« von M. Mikolajczak und J. Piotrowski
E. GIOVANNINI
2025-01-01
Abstract
»Die Graphic Novel […] ist wahrscheinlich die einzige Kunstform, die als Kind unserer Zeit betrachtet werden kann«, behauptet der italienische Essayist und Journalist Goffredo Fofi, der die Aktualität, die Vielfalt und die expressive Freiheit der sogenannten ‚neunten Kunst‘ (A. Tosti) betont. In dieser Hinsicht erweist sich Sandmann (2019) von M. Mikolajczak und J. Piotrowski als besonders geeignet, das innovative und intermediale Potenzial des Literatur-Comics zu demonstrieren. Diese Graphic Novel zeichnet sich durch einen zugleich eng gefassten und originellen Umgang mit dem Ausgangstext aus, wie die Rückseite des Buchs ankündigt, wo die Adaption als »fiktive Fortsetzung, […] Gruselgeschichte und Psychothriller« bezeichnet wird. Inhaltliche und sprachliche Fragmente von E. T. A. Hoffmanns Text werden mit Erfindungen auf bildlicher und textueller Ebene kreativ ‚montiert‘, ebenso wie auf der Ebene der Figuren, deren Charakterisierung und Funktionalisierung. Die Perspektivierung und die Erzählstrategien wurzeln in der Erzählung, weichen aber auch deutlich von ihr ab, um Themenbereiche wie z. B. Psychopathie und Erotik zu stärker hervorzuheben, die das Werk für zeitgenössische und nicht unbedingt spezifisch vorgebildete Rezipienten attraktiver werden lassen. Höchst interessant sind außerdem sowohl die bildlichen Bezugnahmen auf Filme des Expressionismus wie Nosferatu und Das Cabinet des Dr. Caligari ‒ die Sandmann mit früheren Literatur-Comics wie Dino Battaglias Olimpia (1970) verbinden ‒, als auch Anklänge an allgemein bekannte Gruselfiguren wie das Monster in Alien oder Gollum in Der Herr der Ringe. Bildzitate in Literatur-Comics bilden außerdem »ein Scharnier zwischen der Comic-Geschichte und der Kunst-Geschichte« (M. Schmitz-Emans), wie auch Sandmann beweist, indem Stilisierungen von Gemälden u. a. von Botticelli, Schiele und Gauguin das Bildgedächtnis des Lesers herausfordern. Das Auge herrscht auf allen Ebenen vor. Die originelle und fesselnde Montage von Bild- und Textzitaten in dieser Graphic Novel wirkt bisweilen desorientierend, doch die Kenntnis des ‚Hypotextes‘ (G. Genette) dient als hilfreicher Kompass für diejenigen Rezipienten, die Nathanael und Coppelius in die Tiefe des Textes begleiten wollen. »Adaptation is a form of repetition without replication« (L. Hutcheon): Sandmann von M. Mikolajczak und J. Piotrowski ist ein überzeugender Beweis dafür.| File | Dimensione | Formato | |
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