‚Prekariat‘ ist ein Schlüsselwort, das die Beschäftigungsverhältnisse auch im Kulturbereich immer öfter bezeichnet und die Resilienz hochqualifizierter Kulturarbeiter mit atypischen Beschäftigungsformen fördert. Das akademische Prekariat als spezifische Form der Flexibilisierung und schwierigen Umwandlung des ‚kulturellen Kapitals‘ (Bourdieu) in ökonomisches wird – nicht nur – in Deutschland öffentlich debattiert und auch literarisch thematisiert: In der Trivialliteratur (siehe z. B. den »völlig ergraute[n] Nachwuchswissenschaftler« in J. Sauer Uniklinik, 2001), genauso wie in Romanen mit gesellschaftskritischen (C. Heins Weiskerns Nachlass, 2011) oder autobiographischen Zügen (A. Sperks Die Hoffnungsvollen, 2018). Im neuen Jahrtausend prägen Internet und technologische Neuerungen auch das kulturelle Prekariat und ermöglichen innovative Formen desselben wie die ‚digitale Bohème‘. Dieser von S. Lobo und H. Friebe in Wir nennen es Arbeit (2006) definierte Begriff bezeichnet flexible Wissensarbeiter, die auf eine feste Anstellung genauso wie auf einen fixen, traditionellen Arbeitsort verzichten und mittels der Informations- und Kommunikationstechnologien in Projektform arbeiten. Dieser Begriff wurde seit seiner Schöpfung in Deutschland vieldiskutiert und im Laufe der Jahre durch die harte Wirklichkeit etwas entzaubert, aber er kann sich noch als aktuell erweisen, denn mehrere Lebens- und Arbeitsbedingungen der digitalen Bohemiens charakterisieren heutzutage auch andere prekäre Kulturarbeiten. Der Text vom Lied für die Digitale Bohème (2014) des deutschen Liedermachers, Kabarettisten und Schriftstellers Marc-Uwe Kling kann dazu dienen, die ‚digitale Bohème‘ mit dem akademischen Prekariat unter besonderer Berücksichtigung der Germanistik zu vergleichen. Gemeinsamkeiten fallen deutlich auf, wenn man die Arbeitsumstände und den Alltag sowohl literarischer Figuren als auch realer Postdoktoranden oder Privatdozenten auf räumlicher, zeitlicher, technologischer, sozialer und finanzieller Ebene betrachtet. Ein deutlicher Unterscheid muss aber betont werden: Dem systembedingten akademischen Prekariat fehlt jede Freiwilligkeit, die die Lebensentscheidungen der digitalen Bohemiens voraussetzen. Leider ist den zeitgenössischen prekären Germanisten nicht einmal der Charme des Begriffs ‚Bohème’ übriggeblieben, der abenteuerliche, gegen alle Regeln verstoßende Künstlerleben im frühen 20. Jahrhundert aufruft.

Nicht einmal der Charme der „digitalen Bohème“. Das akademische Prekariat im neuen Jahrtausend

E. GIOVANNINI
2019-01-01

Abstract

‚Prekariat‘ ist ein Schlüsselwort, das die Beschäftigungsverhältnisse auch im Kulturbereich immer öfter bezeichnet und die Resilienz hochqualifizierter Kulturarbeiter mit atypischen Beschäftigungsformen fördert. Das akademische Prekariat als spezifische Form der Flexibilisierung und schwierigen Umwandlung des ‚kulturellen Kapitals‘ (Bourdieu) in ökonomisches wird – nicht nur – in Deutschland öffentlich debattiert und auch literarisch thematisiert: In der Trivialliteratur (siehe z. B. den »völlig ergraute[n] Nachwuchswissenschaftler« in J. Sauer Uniklinik, 2001), genauso wie in Romanen mit gesellschaftskritischen (C. Heins Weiskerns Nachlass, 2011) oder autobiographischen Zügen (A. Sperks Die Hoffnungsvollen, 2018). Im neuen Jahrtausend prägen Internet und technologische Neuerungen auch das kulturelle Prekariat und ermöglichen innovative Formen desselben wie die ‚digitale Bohème‘. Dieser von S. Lobo und H. Friebe in Wir nennen es Arbeit (2006) definierte Begriff bezeichnet flexible Wissensarbeiter, die auf eine feste Anstellung genauso wie auf einen fixen, traditionellen Arbeitsort verzichten und mittels der Informations- und Kommunikationstechnologien in Projektform arbeiten. Dieser Begriff wurde seit seiner Schöpfung in Deutschland vieldiskutiert und im Laufe der Jahre durch die harte Wirklichkeit etwas entzaubert, aber er kann sich noch als aktuell erweisen, denn mehrere Lebens- und Arbeitsbedingungen der digitalen Bohemiens charakterisieren heutzutage auch andere prekäre Kulturarbeiten. Der Text vom Lied für die Digitale Bohème (2014) des deutschen Liedermachers, Kabarettisten und Schriftstellers Marc-Uwe Kling kann dazu dienen, die ‚digitale Bohème‘ mit dem akademischen Prekariat unter besonderer Berücksichtigung der Germanistik zu vergleichen. Gemeinsamkeiten fallen deutlich auf, wenn man die Arbeitsumstände und den Alltag sowohl literarischer Figuren als auch realer Postdoktoranden oder Privatdozenten auf räumlicher, zeitlicher, technologischer, sozialer und finanzieller Ebene betrachtet. Ein deutlicher Unterscheid muss aber betont werden: Dem systembedingten akademischen Prekariat fehlt jede Freiwilligkeit, die die Lebensentscheidungen der digitalen Bohemiens voraussetzen. Leider ist den zeitgenössischen prekären Germanisten nicht einmal der Charme des Begriffs ‚Bohème’ übriggeblieben, der abenteuerliche, gegen alle Regeln verstoßende Künstlerleben im frühen 20. Jahrhundert aufruft.
2019
978-3-631-80904-4
File in questo prodotto:
Non ci sono file associati a questo prodotto.

I documenti in IRIS sono protetti da copyright e tutti i diritti sono riservati, salvo diversa indicazione.

Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11579/108780
Citazioni
  • ???jsp.display-item.citation.pmc??? ND
  • Scopus ND
  • ???jsp.display-item.citation.isi??? ND
social impact