Den Kern von Kellers Tanzlegendchen (1872) bildet die Geschichte der jungen Musa, die nach der Aufforderung des biblischen Königs David auf ihre Tanzleidenschaft verzichtet und sich der Buße widmet, um an dem Reigen der Seligen im Jenseits teilzunehmen. Trotz der inhaltlichen Berührungspunkte verleiht Keller seiner Quelle ― Kosegartens Legendensammlung aus dem Jahre 1804 ― neue Bedeutungen, die in der Körper- und Tanzauffassung des Christentums wurzeln und das komplexe Verhältnis von Kunst und Religion widerspiegeln. Der Werdegang Musas von der anfänglichen Übereinstimmung von Beten und Tanzen bis zur totalen Aufgabe des Irdischen zugunsten des Himmlischen entspricht den wichtigsten Stationen der abendländischen Tanzgeschichte von der beseelten Leibauffassung und der kultischen Funktion des Tanzes im ersten Christentum bis zum Elevationsideal und zur Gewichtslosigkeit des romantischen Balletts. Kulturgeschichtliche und religiöse Inhalte bereichern außerdem die künstlerische Dimension, als sich Musas „Leib als Ort der Strafe“ (Foucault) und der Himmel als inszenierte Tanzgesellschaft erweisen. Am Ende des Textes fügt Keller eine bedeutende Episode hinzu: Die neun Musen, die sich an Festtagen im Himmel vorübergehend aufhalten dürfen, singen zu Musas Himmelfahrt einen Lobgesang; er erweckt aber in den Seligen die Sehnsucht nach dem Weltlichen (siehe diesbezüglich Schopenhauers Betrachtungen über die Verbindung von Wort und Musik) und verursacht deswegen die ewige Verbannung der Schutzgöttinnen der Künste in die Hölle. Die Ersetzung der Hauptfigur Musa durch die Musen (Plural) und der Übergang von der Wortlosigkeit des Tanzes zur Vokalmusik zeigen, der Blick des Schweizer Dichters reicht zum Schluss über den Tanz in die allgemeine künstlerische Dimension hinaus. Genauso wie Musas körper- und tanzfeindliche Askese bezeugt die Vertreibung der Töchter Zeus‘ aus dem Paradies die diesseitsverneinende Einstellung des Christentums, die Keller als Unterdrückung natürlicher Kräfte empfindet und im Tanzlegendchen als kunstfeindliche Ausrichtung darstellt.

Irdische und himmlische Tänze: Körper, Kunst und Religion in Gottfried Kellers „Tanzlegendchen“

GIOVANNINI E
2015-01-01

Abstract

Den Kern von Kellers Tanzlegendchen (1872) bildet die Geschichte der jungen Musa, die nach der Aufforderung des biblischen Königs David auf ihre Tanzleidenschaft verzichtet und sich der Buße widmet, um an dem Reigen der Seligen im Jenseits teilzunehmen. Trotz der inhaltlichen Berührungspunkte verleiht Keller seiner Quelle ― Kosegartens Legendensammlung aus dem Jahre 1804 ― neue Bedeutungen, die in der Körper- und Tanzauffassung des Christentums wurzeln und das komplexe Verhältnis von Kunst und Religion widerspiegeln. Der Werdegang Musas von der anfänglichen Übereinstimmung von Beten und Tanzen bis zur totalen Aufgabe des Irdischen zugunsten des Himmlischen entspricht den wichtigsten Stationen der abendländischen Tanzgeschichte von der beseelten Leibauffassung und der kultischen Funktion des Tanzes im ersten Christentum bis zum Elevationsideal und zur Gewichtslosigkeit des romantischen Balletts. Kulturgeschichtliche und religiöse Inhalte bereichern außerdem die künstlerische Dimension, als sich Musas „Leib als Ort der Strafe“ (Foucault) und der Himmel als inszenierte Tanzgesellschaft erweisen. Am Ende des Textes fügt Keller eine bedeutende Episode hinzu: Die neun Musen, die sich an Festtagen im Himmel vorübergehend aufhalten dürfen, singen zu Musas Himmelfahrt einen Lobgesang; er erweckt aber in den Seligen die Sehnsucht nach dem Weltlichen (siehe diesbezüglich Schopenhauers Betrachtungen über die Verbindung von Wort und Musik) und verursacht deswegen die ewige Verbannung der Schutzgöttinnen der Künste in die Hölle. Die Ersetzung der Hauptfigur Musa durch die Musen (Plural) und der Übergang von der Wortlosigkeit des Tanzes zur Vokalmusik zeigen, der Blick des Schweizer Dichters reicht zum Schluss über den Tanz in die allgemeine künstlerische Dimension hinaus. Genauso wie Musas körper- und tanzfeindliche Askese bezeugt die Vertreibung der Töchter Zeus‘ aus dem Paradies die diesseitsverneinende Einstellung des Christentums, die Keller als Unterdrückung natürlicher Kräfte empfindet und im Tanzlegendchen als kunstfeindliche Ausrichtung darstellt.
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