Auf der sprachgeschichtlichen Ebene erfüllt Lingua Tertii Imperii. Notizbuch eines Philologen (1947) des jüdischen Wissenschaftlers Victor Klemperer eine grundlegende Funktion, denn kurz nach Kriegsende versucht dieses Werk, »das Gift der LTI deutlich zu machen und vor ihm zu warnen« (LTI). Von der Kritik bisher wenig beachtet wurden aber die individuellen und kollektiven Gedächtnisinhalte des Werkes, die sich tagebuchartig als Anlass und Beweis philologischer Überlegungen erweisen und zur Rekonstruktion der nahen Vergangenheit sowohl eines verfolgten deutschen Intellektuellen als auch eines in den nationalsozialistischen Rausch versetzten Volkes beitragen. Victor Klemperer stützt sich in LTI auf geschriebene, gesprochene, offizielle, private, feierliche, grausame und teilweise auch witzige Wörter, die zu Stationen der Erinnerung werden und ein Identitätskonzept veranschaulichen, in dem Erlebnis und Sprache verschmelzen. Wörter sind gleichzeitig Forschungsgegenstände und Lebenserfahrungen; sie sind Form und Inhalt einer Epoche, einer philologischen Studie, eines Menschenlebens, einer Weltkatastrophe. Die Trennungslinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart wurde 1945 historisch deutlich gezogen; LTI zeigt aber, dass jene Grenze auf der individuellen und kollektiven Sprach- und Identitätsebene zum Teil noch befestigt werden soll. Eben in der Kombination von kritischer Reflexion und lebhaften Erinnerungen wurzelt Victor Klemperers Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich, die mit LTI einen einzigartigen Beitrag zur Verarbeitung und zukünftigen Überwindung der nationalsozialistischen Tragödie leistet.

LTI: Erinnerungen des Philologen Victor Klemperer

GIOVANNINI E
2018-01-01

Abstract

Auf der sprachgeschichtlichen Ebene erfüllt Lingua Tertii Imperii. Notizbuch eines Philologen (1947) des jüdischen Wissenschaftlers Victor Klemperer eine grundlegende Funktion, denn kurz nach Kriegsende versucht dieses Werk, »das Gift der LTI deutlich zu machen und vor ihm zu warnen« (LTI). Von der Kritik bisher wenig beachtet wurden aber die individuellen und kollektiven Gedächtnisinhalte des Werkes, die sich tagebuchartig als Anlass und Beweis philologischer Überlegungen erweisen und zur Rekonstruktion der nahen Vergangenheit sowohl eines verfolgten deutschen Intellektuellen als auch eines in den nationalsozialistischen Rausch versetzten Volkes beitragen. Victor Klemperer stützt sich in LTI auf geschriebene, gesprochene, offizielle, private, feierliche, grausame und teilweise auch witzige Wörter, die zu Stationen der Erinnerung werden und ein Identitätskonzept veranschaulichen, in dem Erlebnis und Sprache verschmelzen. Wörter sind gleichzeitig Forschungsgegenstände und Lebenserfahrungen; sie sind Form und Inhalt einer Epoche, einer philologischen Studie, eines Menschenlebens, einer Weltkatastrophe. Die Trennungslinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart wurde 1945 historisch deutlich gezogen; LTI zeigt aber, dass jene Grenze auf der individuellen und kollektiven Sprach- und Identitätsebene zum Teil noch befestigt werden soll. Eben in der Kombination von kritischer Reflexion und lebhaften Erinnerungen wurzelt Victor Klemperers Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich, die mit LTI einen einzigartigen Beitrag zur Verarbeitung und zukünftigen Überwindung der nationalsozialistischen Tragödie leistet.
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