In Begleitung eines Filmteams verbrachte Elias Canetti 1954 drei Wochen in Marrakesch, aber erst 1968 veröffentlichte er Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise. In den vierzehn Prosastücken dieses Bandes zeigt sich die marokkanische Stadt als mehrsprachiger Erinnerungsraum, in dem sich das Fremde als vielseitige Kategorie erweist, deren Beschreibung sowohl in auditiven als auch in körperlichen Wahrnehmungen wurzelt. Die Klanglandschaft von Marrakesch wird durch die Intensität der akustischen Erfahrungen des Reisenden wiedergegeben und enthüllt die Stadt als sozialen, kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Raum. Da die »Stimme im konkreten Sinne eine Spur des Körpers« (Kolesch) ist, gewinnt die leibliche Dimension eine grundlegende Rolle in Canettis Wahrnehmung und Darstellung des Fremden, obwohl die räumliche Gebundenheit akustischer Eindrücke in diesem Text von der Kritik bisher wenig beachtet wurde. Der Titel des Werkes verweist auf unterschiedliche Stimmen, die zwischen Körperlosigkeit und Körperlichkeit changieren: einerseits auf die der Einwohner sowie der Tiere Marrakeschs, die der Ich-Erzähler auch in ihrer Leibhaftigkeit oder Leiblosigkeit beschreibt; andererseits auf die Stimme der Stadt selber, die sich als urbaner und architektonischer Raum wie auch als stimmmächtiger und mehrsprachiger ›Stadtkörper‹ zeigt (zum anthropomorphisierenden Stadtdiskurs siehe u. a. Sennett und Ackroyd). Die Abwesenheit und Anwesenheit der leiblichen Dimension der Stimme spiegelt sich außerdem in dem aufschlussreichen Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit wider. Akustische Erinnerungen vergegenwärtigen sich in Canettis Aufzeichnungen und verräumlichen sich im ›Textkörper‹, in dem die Stimme des Ich-Erzählers die akustische und leibliche marokkanische Fremderfahrung lebhaft inszeniert.

Akustische und physische Bilder des Fremden in Elias Canettis „Die Stimmen von Marrakesch“

GIOVANNINI E
2017-01-01

Abstract

In Begleitung eines Filmteams verbrachte Elias Canetti 1954 drei Wochen in Marrakesch, aber erst 1968 veröffentlichte er Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise. In den vierzehn Prosastücken dieses Bandes zeigt sich die marokkanische Stadt als mehrsprachiger Erinnerungsraum, in dem sich das Fremde als vielseitige Kategorie erweist, deren Beschreibung sowohl in auditiven als auch in körperlichen Wahrnehmungen wurzelt. Die Klanglandschaft von Marrakesch wird durch die Intensität der akustischen Erfahrungen des Reisenden wiedergegeben und enthüllt die Stadt als sozialen, kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Raum. Da die »Stimme im konkreten Sinne eine Spur des Körpers« (Kolesch) ist, gewinnt die leibliche Dimension eine grundlegende Rolle in Canettis Wahrnehmung und Darstellung des Fremden, obwohl die räumliche Gebundenheit akustischer Eindrücke in diesem Text von der Kritik bisher wenig beachtet wurde. Der Titel des Werkes verweist auf unterschiedliche Stimmen, die zwischen Körperlosigkeit und Körperlichkeit changieren: einerseits auf die der Einwohner sowie der Tiere Marrakeschs, die der Ich-Erzähler auch in ihrer Leibhaftigkeit oder Leiblosigkeit beschreibt; andererseits auf die Stimme der Stadt selber, die sich als urbaner und architektonischer Raum wie auch als stimmmächtiger und mehrsprachiger ›Stadtkörper‹ zeigt (zum anthropomorphisierenden Stadtdiskurs siehe u. a. Sennett und Ackroyd). Die Abwesenheit und Anwesenheit der leiblichen Dimension der Stimme spiegelt sich außerdem in dem aufschlussreichen Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit wider. Akustische Erinnerungen vergegenwärtigen sich in Canettis Aufzeichnungen und verräumlichen sich im ›Textkörper‹, in dem die Stimme des Ich-Erzählers die akustische und leibliche marokkanische Fremderfahrung lebhaft inszeniert.
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